Wenn Schmerzen anhalten

Ein Jahr nach der letzten Therapieeinheit treffen sich Markus (47 Jahre) und sein Physiotherapeut beim Einkaufen wieder. Damals beendeten sie die Therapie, da keine Verbesserung erzielt werden konnte und Markus anderweitig Hilfe aufsuchen wollte. Nun berichtet er von seiner Odyssee bei verschiedenen Ärzten und Heilpraktikern, den Versuchen gezielter Injektionen, chiropraktischer Behandlungen und osteopathischer Anwendungen. Allein seine Beschwerden, von der Halswirbelsäule in die linke Brust ziehend, scheinen unverändert.

Eindeutige Schmerzursachen sind die Seltenheit

Damals wie heute lassen sich Markus´ Beschwerden durch Beugen des Kopfes auslösen. Über den Tag werden die Schmerzen stärker und fast täglich greift er zu Schmerzmitteln, die mittlerweile nur bedingt helfen. Die Diagnosen für die Beschwerden lauten: „Arthrose“, „Stenose“, „Osteochondrose“ und „Radikulopathie“ im Bereich des 4. und 5. Halswirbels. Zum einen zeigten sich diese diagnostizierten Veränderungen im Kernspinbild, zum anderen scheint das Bewegungsproblem des Nackens diese Diagnosen zu bestätigen. Interessanterweise gibt Markus aber auch an, problemlos stundenlang im Eigenheim Türen und Böden abschleifen zu können, und er berichtet von absolut schmerzfreien Tagen. Zuletzt erlebte er schmerzfrei ein ganzes Wochenende mit Familienmitgliedern und einem gemeinsamen Tischtennisturnier.

Schmerzen sind komplex

Wenn Markus´ Beschwerden tatsächlich mit krankhaften Veränderungen der Wirbelsäule und angrenzender Strukturen zu erklären sind, wie können solche drastischen Schmerzunterschiede zu erklären sein? Eine Antwort liefert das „Modell des reifen Organismus“ (Mature Organism Model, MOM), 1998 vom englischen Physiotherapeuten Louis Gifford entwickelt. Es handelt sich dabei um ein Modell zur Verdeutlichung der Mehrdimensionalität von Schmerzen. Das bedeutet vereinfacht: Schmerzen sind eine Kombination aus drei Einflussgrößen: dem Input (Nervenimpulse) aus betroffenen Körperregionen, der Verarbeitung auf Rückenmarksebene und im Gehirn (beeinflusst durch Vorerfahrungen, Glauben, Emotionen, u. a.) und dem Output, der Reaktion verschiedener Körpersysteme, so z. B. das motorische und das Immunsystem.¹ Die Schmerzen von Markus allein durch die gefundenen „Baustellen“ zu erklären, scheint also nicht ausreichend zu sein, zumal sich die Diagnosen voneinander unterscheiden.

Je mehr Ansprechpartner, desto mehr Diagnosen

Die unterschiedliche Interpretation von bildgebenden Untersuchungen ist nicht unbekannt. In einer im Jahr 2017 erschienenen Studie der renommierten Zeitschrift The Spine Journal wurde eine Patientin in 10 unterschiedlichen Radiologie-Zentren New Yorks mittels eines MRTs der Lendenwirbelsäule untersucht. Das Ergebnis: 49 unterschiedliche Befunde wurden beschrieben, keiner davon stimmte in allen 10 Zentren überein!² In einer überraschenden Studie aus dem Jahr 2013 wurden 24 erfahrene Radiologen mit der Begutachtung von verschiedenen Brust-CT-Untersuchungen auf Lungenknoten beauftragt. Was sie nicht wussten: in der letzten der 5 Untersuchungen einer Lunge war das Bild eines Gorillas versteckt (s. Abbildung 2). Das Ergebnis: 20 von 24 Radiologen fiel der Gorilla nicht auf, und das, obwohl 12 von ihnen ihre Augen auf den Gorilla richteten. Ein typischer Fall der sogenannten Unaufmerksamkeitsblindheit.³

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Abbildung 2: Sehen Sie den Gorilla? (Drew et al. 2013)

Je mehr Diagnosen, desto mehr Therapieideen

Markus berichtet außerdem von unterschiedlichen Therapieempfehlungen: die osteopathische Idee lag in der Anwendung von manuellen Techniken, aus neurochirurgischer Sicht wurde ihm eine Operation der Halswirbelsäule empfohlen, die orthopädische Sichtweise legte ihm gezielte Injektionen am betroffenen Segment nahe und die Vorstellung in einer Reha-Einrichtung führte zu der Empfehlung einer 2-wöchigen stationären Aufnahme. Verständlich, dass Markus durch diese verschiedenen Empfehlungen und Diagnosen eher verunsichert als bestärkt in seine Zukunft schaut. Möglicherweise ist diese Verunsicherung im Hinblick auf die Mehrdimensionalität von Schmerzen auch ein „Schmerzerzeuger“. Jedenfalls lassen Markus die schmerzfreien Tage bei voller Belastbarkeit, verbunden mit Frustration bisheriger Therapien, die 2-wöchige Rehamaßnahme in der genannten Einrichtung starten. Wie sich diese auswirkt, ist zur Zeit noch offen.

Sollten Sie Fragen oder Anmerkungen zum Text oder zukünftige Themenwünsche
haben, können Sie diese gerne als E-Mail an folgende Adresse senden: aktuelles@physiomed-weinheim.de.

 

Quellen

¹ Gifford, L. S. (2013). The mature organism model. Whiplash—Science and Management: Fear, Avoidance Beliefs and Behaviour. Topical Issues in Pain, 1, 45-56.
² Herzog, R., Elgort, D. R., Flanders, A. E., & Moley, P. J. (2017). Variability in diagnostic error rates of 10 MRI centers performing lumbar spine MRI examinations on the same patient within a 3-week period. The Spine Journal, 17(4), 554-561.
³ Drew, T., Võ, M. L. H., & Wolfe, J. M. (2013). The invisible gorilla strikes again: Sustained inattentional blindness in expert observers. Psychological science, 24(9), 1848-1853.

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